In nur zwei Tagen zur Legal-Tech-Lösung
Von Marc Latsch
Fotografie Lorenz Kröger

Was mit einer groben Idee beginnt, endet beim Legal Hackathon Cologne nach einem Wochenende in einem fast fertigen Start-up. Eindrücke von einer Veranstaltung voller Arbeit, Spaß und interdisziplinärer Zusammenarbeit.
Der Anfang besteht aus wenigen Wörtern, gesammelt auf einer Tafel. 14 Namen stehen dort untereinander, daneben die knappst-mögliche Beschreibung einer Produktidee, für die noch Mitstreiter*innen gesucht werden. Lawlist, ESG-Tinder, Attorney Helper. Marcel war der erste, der aus der Runde aufgesprungen war und neben seinen Namen „Compliance Management für KI“ geschrieben hatte. Stück für Stück folgen die anderen. „Unsicher? Man könnte es ja wenigstens mal versuchen“, sagt eine der Organisatorinnen des Legal Hackathon Cologne und hält dabei den Stift vor das Gesicht einer Teilnehmerin.
Die Idee dahinter ist so simpel wie kompliziert. Junge Jurist*innen und Entwickler*innen kommen ein Wochenende lang in Hürth bei Köln zusammen, um so intensiv an ihren Ideen aus dem Bereich Legal Tech zu arbeiten, dass am Ende dabei ein Ergebnis herauskommt, das auf dem Rechtsmarkt bestehen kann. Eine große Aufgabe für die kurze Zeit. Am Ende muss eine Fachjury entscheiden, wer sie am besten gelöst hat. Den drei Gewinner*innen-Teams winken 2000, 1500 und 500 Euro in Form von Wunschgutscheinen. Unterstützt werden sie dabei am und bei Bedarf auch nach dem Wochenende vom Gateway Exzellenz Start-up-Center der Universität Köln, das Franziska Röhr als „Gründungsservice“ vorstellt. Weitere Partner*innen sind die Gastgeber*innen von Wolters Kluwer, RSM Ebner Stolz sowie das Legal Tech Lab Cologne. Die Schirmherrschaft liegt beim Bundesjustizministerium.
Auf die Plätze, fertig, los!
Nach der Tafel-Sammlung hat jeder 60 Sekunden Zeit, um seine oder ihre Idee den restlichen Teilnehmer*innen vorzustellen. Sie alle sollen das Rechtssystem entweder effizienter gestalten, verständlicher machen oder die Anpassung an neue Gesetze und Vorschriften erleichtern. Kim will eine Vertragsapp für Bands entwerfen, Kamal einen Vertragsgenerator für Klinische Studien. Manche haben schon länger über ihre Idee nachgedacht und an ihr gefeilt, andere hatten den Einfall erst im Zug nach Hürth. Einzige Vorgabe: Es muss wirklich etwas Neues an dem Wochenende entstehen. Zum Ansporn outet sich Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann per Video als Fan der Veranstaltung. „Legal Tech leistet einen Beitrag zur Bewahrung der rechtsstaatlichen Ordnung“, sagt er. „Im Bundesministerium für Justiz sind wir sehr gespannt auf Ihre Projekte.“
Nach den Kurz-Pitches beginnt zwischen Antipasti, Spargelsalat und Hähnchenspießen vom Buffet das Speeddating. Überall im Raum und auf der großen Dachterrasse finden sich Gruppen zusammen, diskutierten ihre Ideen. Was im Alltag oft nur mit aufwendigem Recruiting zu bewerkstelligen ist, funktioniert beim Hackathon binnen weniger Minuten. Diejenigen, die alleine stehen, werden angesprochen. „Suchst du noch ein Team?“. Wahlweise sind Entwickler*innen und Jurist*innen die begehrteste Mangelware. Hier finden auch Marcel und Günther erstmals zusammen, die zuvor noch getrennt ihre Ideen vorgestellt hatten. Gemeinsam mit Claudia und Tim bilden sie „ComplAIance“. Ihre Hintergründe: Jura, Wirtschaftsingenieurwesen und Softwareentwicklung. Ihr Ziel: Ein rechtssicheres Tool, das Unternehmen im Umgang mit KI-Verordnungen helfen soll.
Fünf weitere Teams entstehen. „First Contact“ will Kinder vor sexualisierter Cyberkriminalität schützen, „Attorney Helper“ Aktendokumentation automatisieren, „ESG-Scout“ ein Frühwarnsystem für neue Verordnungen entwickeln, „Sir Lance Law“ Rechtsanwaltsfachangestellte mithilfe von KI unterstützen und „Du weisst Bescheid“ Behördenschreiben in verständliches Deutsch übersetzen. Einige der Ideen sind schon nach kurzer Zeit am Freitagabend klar umrissen, andere Teams haben noch diskussionsreiche Stunden vor sich.
Jura kann auch mehr sein an Anwaltsbüro
Ab diesem Zeitpunkt wandern die Teilnehmer*innen zwischen ihren Arbeitsräumen im Erdgeschoss und dem Präsentationsraum im vierten Stock hin und her. Hier gibt es nicht nur Essen und Trinken, sondern auch Expertenvorträge zu Themen rund um den Hackathon. Einführungen in hilfreiche Techniktools, in Legal Design oder die Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz. Die Teilnahme ist freiwillig. Wer die Zeit findet, erhält hier aber wertvolle Einblicke in all das, was Jura auch sein kann – fernab von Anwaltsbüro und Gerichtssaal. Jurist*innen lernen die Start-up-Welt kennen, Entwickler*innen, dass das Recht kein trockener Stoff sein muss.
Am Samstagmorgen trägt als Erste Franziska Röhr vom Gateway Center der Universität Köln vor. Ihr Thema ist Value Proposition, das Erstellen eines Nutzenversprechens. Sie erklärt, wie bei einer Produktentwicklung die „Gains“, „Pains“ und Herausforderungen eines Kunden bedacht werden sollten und in einer „Value Map“ das Vorhaben geprüft werden kann. „Es geht darum, für sich herauszufinden: Was ist der Mehrwert?“ Röhr wirbt auch für den Startup Your Idea Contest der Gateway-Hochschulen Köln. Dort können die Gruppen ihre Idee weiterentwickeln, einem großen Publikum vorstellen und im Idealfall noch vom möglichen Preisgeld profitieren. Vielfältige Hilfe gibt es aber auch außerhalb des Wettbewerbs. Beispielsweise beim Gateway Inkubator, der Gründer*innen in der frühen Vorgründungsphase auf dem Weg zum Geschäftsmodell unterstützen soll.
Halbzeit
Tag zwei ist auch ein guter Moment für ein erstes Zwischenfazit. Was haben die Teams in so kurzer Zeit schon erreicht? So unterschiedlich die Antworten und zu lösenden Probleme da noch sind, die positive Überraschung über sich selbst ist bei allen Teilnehmer*innen spürbar. „Lief super gestern, heute waren alle wieder frisch dabei“, sagt Tim vom Team „Attorney Helper“. „Die Arbeit ist erstaunlich ruhig, entspannt und professionell“, sagt Melissa von „Du weisst Bescheid.“ Der erste Abend war bei allen produktiv und anstrengend. Die Liste im Erdgeschoss, in der sich die Teilnehmer*innen für eine Massage eintragen können, ist fast vollständig gefüllt.
Im zweiten Vortrag des Tages geht es um die Kernaufgabe des Wochenendes, das Pitchen. Jules Banning stellt sich als „echtes kölsches Mädche“ vor, das am 11.11. im Kostüm geheiratet hat, und zeigt ihre bunten Sneaker ins Publikum. Dann präsentiert sie ihren Zuschauer*innen elf Tipps. Es geht um die richtige Vorbereitung, das Geschichtenerzählen und den passenden Einsatz von Emotionen und Unterhaltung. Am Nachmittag wird sie alle Gruppen wiedersehen, um ihnen in einem persönlichen Training zu helfen. Ein einziges „Richtig“ gebe es dabei allerdings nicht. „Ihr entscheidet, Ihr seid der Boss“, sagt Banning.
Im Idealfall ist dieses Wochenende nur der Anfang. Immer wieder haben in den vergangenen Jahres Teams am Hackathon teilgenommen, die ihre Idee danach zu einem Start-up weiterentwickelten. Einige von ihnen haben dafür auch mit dem Gateway Exzellenz Start-up Center der Universität Köln zusammengewirkt. „Zerio“ waren 2022 beim Hackathon dabei. In ihrer Vorgründungsphase haben sie am Gateway Inkubator in Workshops, Trainings und Coachings an sich und ihrem Konzept gefeilt. Heute sind sie gegründet und erleichtern den rechtlichen Prozess bei Energiewende-Vorhaben. „18 Punkte Pro“ haben im vergangenen Jahr in Hürth teilgenommen. An ihrem KI-basierten Klausurkorrektor für juristische Gutachten arbeiten sie derzeit bei Gateway Center im Workspace weiter und haben mit deren Unterstützung das Gründungsstipendium NRW erhalten.


It‘s the final countdown
Am Sonntagmorgen sind nur wenig Menschen auf den Gängen bei Wolters Kluwer zu sehen. Günther und Marcel von „ComplAIance“ veranstalten noch ein kleines Fotoshooting. Für die Kamera schlüpfen sie in die Rollen eines Mitarbeiters mit einer guten Idee und eines Chefs, der die mit Verweis auf die KI-Verordnung abblockt. Nach fünf Minuten ist alles im Kasten. „Perfekt“, ruft Marcel. Wenn ansonsten jemand in den Aufenthaltsraum kommt, hat er meistens nur Zeit für ein schnelles Getränk. „Wie ist die Stimmung?“, ruft ein Mitglied des Orga-Teams einem dieser Kurzzeit-Besucher*innen hinterher. Aus der Ferne ist ein leises „okay“ zu hören. Zwei Teamkolleg*innen unterhalten sich am Automaten. „Wir müssten jetzt auch mal hinne machen“, sagt sie. „Wieso, es ist doch alles fertig“, sagt er. In den Arbeitsräumen sind die Flipboards verschwunden, die großen Gruppendiskussionen abgeschlossen. Es wird programmiert, gegengelesen, das Pitchen geübt. Jede*r hat nun eine klare Aufgabe.
Vier Expert*innen entscheiden an diesem Tag darüber, wer auf den ersten drei Plätzen prämiert wird und wer zumindest bei den Preisen leer ausgeht. Eva Einfeldt ist Fachanwältin für Arbeitsrecht, Stephanie Walter Geschäftsführerin bei Wolters Kluwer, Max Bergmann ist Investment Manager und Teil des HTGF Digital Tech Teams, Dr. Philip Scholz arbeitet als Referatsleiter „Legal Tech und Zugang zum Recht“ im Bundesjustizministerium.
Deadline
Um 12.30 Uhr, keine Minute später, müssen die Pitch-Decks eingereicht sein. „Alles, was bis dahin nicht hochgeladen ist, kann nicht teilnehmen“, hatte Philipp M. Kühn von RSM Ebner Stolz am Freitagabend noch gemahnt. Um 12.31 Uhr steht Marcel gestikulierend in der Lounge im vierten Stock des Gebäudes. Irgendetwas hat mit dem Format wohl noch nicht gestimmt, das Orgateam muss sich besprechen, ob die Datei fristgemäß eingereicht wurde. Dann klärt sich alles auf. Der Stress ist überwunden, die Stimmung gelöst. Marcel lacht entspannt. „Es war alles hochgeladen“, sagt er wie zur Bestätigung.
Die Jury hat für ihre Bewertung klare Kriterien. Sie soll den Nutzen beurteilen, ob die Idee ansprechend und nachvollziehbar umgesetzt wurde, ob es einen Markt dafür gibt und wie gut die Zusammenarbeit innerhalb der einzelnen Teams funktioniert hat. Um das besser einschätzen zu können, können die Jurymitglieder nach dem vierminütigen Pitch weitere vier Minuten lang Fragen stellen. Oft geht es dabei um Geschäftsmodell und Zielgruppe. Manchmal auch nur darum, wie das Tool genau funktionieren soll.
Elona hat die undankbare Rolle, als Erste vortragen zu müssen. Das Los hatte entschieden. Sie verhaspelt sich kurz, fängt sich aber schnell wieder. Sie präsentiert einen Chatbot, den „First Contact“ entwickelt hat. Der kann direkt in Gespräche eingreifen und Kinder und Eltern vor übergriffigem Verhalten warnen. Danach ist „ComplAIance“ dran. Im Hintergrund sind die am Morgen von Marcel und Günther aufgenommenen Fotos zu sehen. In zwei Kolleg*innengesprächen stellt die Gruppe ihr Tool vor, das Unternehmen sagen soll, was als Reaktion auf die KI-Verordnung wann getan werden muss.
Tim und seine „Attorney Helper“ haben sich ein Schaf mit Krawatte als Projekt-Maskottchen auserkoren, die Kolleg*innen von „Sir Lance Law“ einen eigenen Jingle erstellt. Für „Du weisst Bescheid“ spielt Costa für ein Video sich selbst, in dem er zurückblickt, wie es mit seinem damaligen B2-Deutsch war, deutsche Behördenschreiben zu lesen. Bei „ESG Scout“ steht die digitale „Hanna“ am Ende im Konfettiregen, weil ihr Problem gelöst wurde. Alle Teams haben sich etwas Besonderes für den Pitch überlegt und zudem für so kurze Zeit erstaunlich durchdachte Geschäftsmodelle erstellt.
In den Stolz der Teilnehmer*innen mischt sich am Sonntag auch der Stolz der Veranstalter*innen. Selbst diejenigen, die wie Franziska Röhr schon ein paar Jahre dabei sind, lassen sich immer wieder aufs Neue überraschen, was in so kurzer Zeit alles möglich ist. Da sich die Jury nach so vielen guten Pitchs nicht entscheiden kann, verschiebt sich die Siegerehrung um einer Viertelstunde nach hinten. Erst dann herrscht Einigkeit über das Ergebnis. Nach der verspäteten Rückkehr lobt Stephanie Walter als erstes den „hohen Reifegrad an Ideen“.
And the winner is…
Am Ende entscheidet sich die Jury für „ESG Scout“ auf Platz drei (hervorragendes Thema) und „Sir Lance Law“ auf Platz zwei (großartige Problemfindung und Marktbewertung). Besser waren nur Claudia, Tim, Günther und Marcel. Eva Einfeldt macht es erst spannend, spricht von einem sehr komplexen Thema, das alle betrifft. Von einem richtig guten Tool, um Verwirrung zu lösen und Menschen anzuleiten. Dann fällt der Teamname. „ComplAIance“ haben den Legal Hackathon Cologne gewonnen.
Nach der Siegerehrung bleiben Teilnehmer*innen und Organisator*innen noch für eine Weile zusammen. Dr. Philipp Scholz lobt für das Bundesministerium alle Ergebnisse des Wochenendes. „Die Veranstaltung ist sehr wichtig, weil wir ganz dringend und weiter Innovation im Rechtsmarkt brauchen und auch in der Justiz“. Fast überall sind glückliche und stolze Gesichter zu sehen – ob Gewinner oder nicht. Absolut zurecht, wie Franziska Röhr vom Gateway Center bemerkt. Im Laufe des Wochenendes hätten sich schon erste Unternehmen an den Ideen der Start-ups in spe interessiert gezeigt. „Ich habe das Gefühl, dass die Qualität im Laufe der vergangenen Jahre immer besser geworden ist.“
Besonders zufrieden wirkt Marcel, einer der Ideengeber von „ComplAIance“. Sie hätten jetzt tatsächlich schon ein klickbares Grundprodukt, sagt er. „Das ist super, die Tage haben uns sehr weitergeholfen.“ An diesem Sonntag soll ihr Weg nicht enden. Sein Siegerteam und er wollen diese Basis nutzen, um bald zu gründen. Das Wochenende war ihr Kickstart in die reale Start-up-Welt.